Lese-Rechtschreibschwäche bei Kindern bereits vor Schulbeginn erkennbar

Eines von 20 Kindern hat auffallende Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Schlimm ist Lese-Rechtschreibschwäche nicht. Doch das Kind sollte möglichst früh maßgeschneiderte Hilfe bekommen.

Bekanntlich dauert es unterschiedlich lang, bis die Kinder Buchstaben „verstehen“. Bei den allermeisten Kindern geschieht dies im Verlauf der ersten beiden Schuljahre. Ungefähr eines von 20 Kindern tut sich mit der Welt der Buchstaben und ihrer Kombinationen aber so schwer, dass diese Lese-Rechtschreibschwäche zu Problemen in der Schule führt. Kommen auch Schwierigkeiten mit der richtigen Schreibweise der Wörter hinzu, so spricht man von einer Lese-Rechtschreibschwäche (LRS). Der bekanntere Begriff Legasthenie meint der Bedeutung  nach streng genommen nur die Leseschwäche, auch Dyslexie genannt.  (Von lateinisch legere „lesen“ und altgriechisch ἀσθένεια asthéneia „Schwäche“, also „Leseschwäche“).

Legasthenie, LRS, Lese-Rechtschreibschwäche, Ergotherapie Grevenbroich

„Zweimal in deinem Leben spürst du, dass du von allen anerkannt wirst – wenn du laufen lernst und wenn du lesen lernst.“ Man könnte den Satz der amerikanischen Schriftstellerin Penelope Fitzgerald noch um andere Fertigkeiten ergänzen, deren Erwerb Kindern Anerkennung einträgt, zum Beispiel Fahrrad fahren oder Schwimmen. Doch dass ein Kind den Schlüssel zur Schrift in der Hand hält, dass Ansammlungen unscheinbarer schwarzer Striche und Bögen auf einem Blatt Papier oder einem Bildschirm plötzlich Sinn machen, das ist ohne Zweifel ein riesiger Meilenstein in seiner Entwicklung. Zumindest in einer Schriftkultur wie der unseren. Verantwortlich dafür sind unsere Gene.

In Ihrer Studie untersuchten Dr. Michael Skeide und sein Team mithilfe eines MRT-Scans bei 141 Kindern in der Altersgruppe Klasse 4 bis 8 sowie Kindergarten bis Klasse 1 die Ausprägung dieser Gene in Hirnregionen, die beim Lesen- und Schreiben lernen eine wichtige Rolle spielen.
Dabei entdeckten Sie, dass Kinder mit einer bestimmten Variante des Gens NRSN1 – ein Gen, dass für die Entwicklung der Nervenzellen wichtig ist – strukturelle Unterschiede in einer Hirnregion aufweisen, die Experten als Visual Word Form Area bezeichnen. Diese Hirnregion ist für das Erkennen von Buchstaben und Wörtern zuständig. Schon im Kindergarten, bevor Kinder das Lesen überhaupt lernen, heben sich hier jene mit und ohne spätere LRS voneinander ab.

Je früher eine LRS erkannt wird und die betroffenen Kinder eine entsprechende Förderung erhalten, desto größer ist laut Studienautor Skeide die Chance, dass die Ausprägung der Störung deutlich abgeschwächt werden kann. Screening-Verfahren kämen jedoch meist erst am Ende der zweiten Klasse zum Einsatz, wenn die Schwächen beim Lesen und Schreiben bereits offensichtlich sind. Für die Kinder bedeutet das Frust: Ihr Selbstbewusstsein und die Motivation, zu lernen, leiden.

Die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN) zeichnete die Arbeit von Dr. Skeide am 28. April 2017 mit dem Alois-Kornmüller-Preis aus. Der Preis wird alle drei Jahre für eine herausragende Arbeit auf dem Gebiet der experimentellen oder klinischen Neurophysiologie an einen jungen Wissenschaftler vergeben.

 

Kindern steht ein Nachteilsausgleich zu

Vor allem diese Schwierigkeiten beim Lesen sind, wenn der Unterricht anspruchsvoller wird, in praktisch allen Schulfächern ein Handicap. Doch es gibt inzwischen auch einige gute Nachrichten: Zunächst ist das Bewusstsein für das Problem bei Eltern und Lehrern in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen. Die betroffenen Kinder werden längst nicht mehr einfach als faul, unwillig oder gar dumm abgestempelt. Ihnen steht in der Schule ein Nachteilsausgleich zu, und sie profitieren zudem von ausgefeilten Lerntherapien.

 

Der Verdacht kommt meist gegen Ende der ersten Klasse auf

Heute allerdings ist es für den ganzen Lebensweg entscheidend, ob jemand die korrekte Schreibung von Wörtern aus der Mutter- oder den Fremdsprachen einigermaßen zuverlässig im Gehirn abspeichern kann, vor allem aber, ob er oder sie in der Lage ist, flüssig zu lesen. Der Verdacht, dass ein Kind an einer Lese-Rechtschreibschwäche leiden könnte, kommt meist schon gegen Ende der ersten Klasse auf. Allerdings entwickeln sich Kinder mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, sodass eine Einschätzung gerade zu Beginn der Schulzeit schwierig ist.

Lese-Rechtschreibschwäche LRS, Legasthenie

Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Ute Krüger ist in ihrer Praxis in Prenzlauer Berg immer wieder vor diese Aufgabe gestellt. Bei der Diagnostik helfen ihr verschiedene altersgerechte Tests, die im Lauf der Jahre wiederholt werden müssen. „Wichtig ist zum Beispiel, ob es eine Differenz zwischen den Leistungen beim Lesen und dem Intelligenzquotienten des Kindes gibt.“ Wird dem Kind eine Lese-Rechtschreibschwäche attestiert, so kann es in der Schule den bewussten „Nachteilsausgleich“ bekommen, zum Beispiel mehr Zeit und ein Aussetzen der Benotung für die Rechtschreibung.

Worauf es bei Therapien ankommt

Dass das Kind gerecht behandelt wird, ist jedoch nicht das einzige Ziel. Das Kind möchte und soll ja auch Fortschritte machen, im besten Fall die Gleichaltrigen „einholen“. Hierbei kann die Ergotherapie unterstützend und begleitend, mittels Übungen zur Seite Stehen und sie hilft die Behandlung direkt bei den Symptomen anzusetzen.

Die Übungen sollen Entsprechungen von gesprochenen und geschriebenen Silben, zum Zergliedern von Wörtern und umgekehrt zur Verbindung von Phonemen enthalten. Ganz praktisch gesehen kann es zudem nützlich sein, Texte mit breiteren Buchstaben und größerem Abstand zwischen den Wörtern und den Zeilen und in vergrößerter Schrift auszudrucken. Bei Rechtschreib-Problemen wirkt offensichtlich das Unspektakulärste am besten: Den Kindern unermüdlich dabei zu helfen, einen Wissensschatz von Regeln zu verinnerlichen, wozu auch das regelmäßige Lesen sehr viel beiträgt.

 

Quelle: Michael A. Skeide et al., NRSN1 associated grey matter volume of the visual word form area reveals dyslexia before school, Brain(2016) 139(10): 2792-2803.
DOI: 10.1093/brain/aww153